Ankommen. Gerüche und Geräusche.

Kurz vor Wien bricht helle Panik in meinem Zugabteil aus. Münder verzerren sich, Hände zittern, Augen werden aufgerissen und blicken geweitet … auf Taschenspiegel (und ersatzweise Handydisplays). Waffen werden gezückt: Cajalstift, Lippenstift, Wangenrouge, Wimperntusche. Konturen werden verstärkt, Linien gezogen, Gräben zugepudert. Meine Sitznachbarin stürmt mit dem Kulturbeutel die Zugtoilette. Als sie wiederkommt, umwehen sie die Aromen tausender Cremes. Doch leichte Zischgeräusche verweisen darauf, dass schnell nachgerüstet wird. Statt im Zug nach Wien fühle ich mich in die Parfümerieabteilungen der Pariser Kaufhäuser versetzt. Auf dem Bahnsteig verstreut sich die Schar der für den Kampf Gewappneten schnell, der Duft verfliegt. Wer weiß, welche Schlachten heute noch in Wien geschlagen werden.

Der neue Hauptbahnhof Wiens ist groß, unübersichtlich und angefüllt mit den üblichen Fresstationen und Einkaufsketten. Doch das Stimmengewirr erinnert eher an einen Flughafen und auf den Bahnsteiganzeigen tauchen die Namen weit entlegener Ziele auf: Belgrad, Sofia, Istanbul. Die Fernzüge und vor den Toren des Bahnhofes die Fernbusse pumpen einen stetigen Strom an Menschen mit Koffern und Rücksäcken in die Stadt, die sich in den Adern ihrer Straßen und Gassen verteilen. Mich nimmt die Straßenbahn in den 7. Gemeindebezirk, das Neubauviertel, mit.

Der Würstelstand an der Straßenbahnhaltestelle bietet für das Umsteigen 20 Wurstsorten an, von Bosna bis Frankfurter. Der Imbiss nebenan versucht mit orientalischen Köstlichkeiten dagegen zuhalten. Ein anderer beabsichtigt, mich mit „Berliner Döner“ zu verunsichern, wo ich mich befinde. Ich ignoriere ihn, der mediterrane Mittagsteller des Café Arnes neben meiner Unterkunft ist verlockenderer.

Einatmen, ausatmen, ankommen.

Erste Gehversuche in der Nachbarschaft lassen auf fotografische Ausbeute hoffen. Und Anregung: ich befinde mich mitten in einem Gegend von Fotogalerien, Fotofachgeschäften und Fotoakademien. Zudem ist die Fotobiennale „Foto Wien“ gestartet und wird mich die gesamten 4 Wochen begleiten. Der Duft der Straße bewegt sich zwischen Pisse und Kaffee, Abgasen und Blumenduft aus „Klimainseln“, die gerade in Jena umstrittenen Parklets findet man hier aller paar Meter. Ein Mann zapft aus einem umgebauten Hydranten Wasser in eine Gießkanne zum Wässern der Blumeninseln. In einem offenen Büchertauschregal ist eine Frau in der Erforschung dessen Bestände versunken. Das Mischgeschäft für Zirbelprodukte und türkische Spezialitäten um die Ecke lässt mich anhalten, eine Art späte Versöhnung zwischen Wienern und Türken. Die Besitzerin winkt mich herein, das Schild „Flohmarkt“ draußen beziehe sich nicht auf den Laden, den betreibe sie im Hinterflügel, und wenn ich auch nicht kaufe, so sollte ich doch den originalen Biedermeierhof von 1823 bewundern. Der Mann mit der Gießkanne grinst mich an. Eine Straßenbahn verlangt laut klingelnd Durchfahrt, was von Hupen der wartenden Autos beantwortet wird. Überall weisen Schilder in den Scharnigärten und Hofeingängen darauf hin, dass nach 22:00 Uhr nur noch leise gesprochen werden sollte. Als die Tür der Kirche im Schottenfeld hinter mir zufällt, ist es wirklich still.

Laut ist es dann am Abend im Amerlinghaus (laut Eigendarstellung offen, links und nichtkommerziell, auch Gründungsstätte der Österreichischen Grünen). KAPIKO spielt türkischen Ethnojazz mit bulgarischen Zugaben. Über den hämmernden Groove legt sich die Melodie der Kavalflöte und der Gesang der bulgarischen Sängerin. Der Sound des Balkans schlägt zu. Ein neben mir sitzender weißhaariger Mann erklärt mir, dass man verrückt sein müsse, um solche Musik machen zu können. Es stellt sich heraus, dass er selbst türkischer Musiker ist, Mansur Bildik, mit der Saz durch Europa tourte und nun dieses Instrument als Dozent unterrichtet. Der Innenhof des Amerlingbeisl fängt an zu kochen, die Drums peitschen das Publikum, die Melodien holen einen wieder zurück.

Zurück in der Nacht treibt es es mich durch die Gassen weiter an der Ginsbergbar vorbei. „Koboldköpfige Kasperle, brennend für den altbewährten teuflichen Kontakt zur Bewußtseinsmaschine in den Trieben der Nacht. Die leichtsinnig & abgerissen & hohläugig & betrunken im gedimmten Licht der Innenstadtcafeès lachend wachsaßen schwebend über dem Eichenmeer im barocken Rausch.“

In der Nacht verlieren sich alle weiteren Spuren des Flaneurs…

 

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