Schwierige Erinnerung – Künstlerische Interventionen im Wiener Stadtbild I

Es ist eine mehrfache Schwierigkeit, Österreichs Umgang mit seiner Geschichte im Nationalsozialismus zu beschreiben. Zu lange hat die österreichische Gesellschaft dem Opfermythos gepflegt, sogar in der Unabhängigkeitserklärung 1945 und dem Staatsvertrag 1955 als Grundkonsens verankert, 1938 als erste Land von Hitlerdeutschland „besetzt“ geworden zu sein, ohne darüber zu sprechen, wie begeistert Hitler in seinem Heimatland empfangen wurde. Die Beteiligung der österreichischen Eliten am NS-System, die weit über Kooperation hinausging, sondern selbst von der NS-Ideologie angetrieben war, wurde ebenso verschwiegen, wie die Geschichte der eigentlichen Opfer, ob Juden, Sinti, Sozialdemokraten, Kommunisten. Dass das 1938 beseitigte austrofaschistische, an Mussolini angelehnte System eines Dollfuß und Schuschnigg keine Alternative darstellte, wurde kaum thematisiert. Dieses bewusste Desinteresse an diesen Themen der österreichischen Geschichte existierte parteiübergreifend bis in die SPÖ hinein, auch wenn vereinzelt die mangelhafte Entnazifizierung Thema war. Erst mit der sogenannten Waldheim-Affäre ab 1986, die den ehemaligen UNO-Generalsekretär und nunmehrigen Bundespräsidenten mit seiner Vergangenheit im 2. Weltkrieg konfrontierte, geriet dieses Selbstbild in Wanken. Allerdings ist Österreich bis heute in der Frage polarisiert, die Wahlerfolge der FPÖ sprechen für sich.
Doch wie komme ich aus Deutschland dazu, dies zu kommentieren, wenn sich im deutschen Westen die Aufarbeitungsdebatte lange nicht von in der Österreich unterschieden hat und im Osten ein offizieller „Antifaschismus“ kaum Raum für die Frage nach persönlicher Schuld in einer Diktatur und dem Schicksal der vielen Opfergruppen zuließ? Und wenn ich mich jetzt in einer fremdem Stadt bewege, wo finde ich Punkte im Stadtbild, die mir dieses Nachdenken ermöglichen?
Dazu verweise ich als Beispiel auf drei Interventionen im Stadtraum Wiens jenseits der normalen, erwartbaren Denkmalsästhetik, in diesem Beitrag zunächst auf

„Die Säulen der Erinnerung“.

Auf dem Yppenplatz, jenen Platz nahe des beschriebenen Brunnenmarktes, existiert eine Installation dreier Litfasssäulen, die mehrfach im Jahr von Künstlerinnen und Künstlern neu gestaltet werden. Der Aufbau erfolgte 2008 und war als befristete Aktion geplant, nunmehr besteht das Zeichen seit 15 Jahren. Getragen wird es vom Verein Grundstein/Masc Foundation, die sich mit der Geschichte der jüdischen Kaufmannsfamilie Dichter befasst, die in diesem Wiener Stadtteil Ottakring beheimatet war und dort auch durch Leopold Dichter das nämliche Kaufhaus 1890 gründete, das größte Kaufhaus der Wiener Außenbezirke. Schon am Tag der Besetzung 1938 wurde die Besitzer, die Familien Dichter und Aptowitzer, von seiner Belegschaft vertrieben, kurz darauf erfolgte die Arisierung an den Bankier Topolansky. Eine Wiedergutmachung erfolgte nie, das Kaufhaus wurde nach 1945 einem anderen Arisierer, einem Oskar Seidenglanz übergeben, der es als „Osei“ bis 2004 weiterführte. 2005 bis 2007 nutzte es der Verein als temporäre Kunststätte, um seine Geschichte aufzudecken. 2007/2008 wich es einer Wohnanlage. Walter Arler, ein Enkel Leopolds Dichter und bekannter Musikkritiker, und seine Schwester Edith konnten nach Amerika fliehen, sie sind in einer ständigen Inschrift an den Säulen erwähnt:

Walter Arlen PIAZZA Edith Arlen
Im Zeichen der Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus
Säulen der Erinnerung

Die Installation rekruiert auf zwei klassische Funktionen von Litfassäulen, die auch für das Kaufhaus prägend waren. Zu einem die Reklame, das Anpreisen von Gütern, Artikeln und Inhalten, das Verleiten zum Innehalten und anschließendem Konsum. Das andere ist die öffentliche Bekanntmachung, die Anordnung der Obrigkeit, die Tatsachen schafft und Handeln sanktioniert. Beides ist zeitweilig, Plakate werden überklebt, das nächste Angebot steht schon bereit, der neue Film, die neueste Mode. Aber auch die Anordnung überlebt sich, wird geändert, gar aufgehoben von einer folgenden Staatsmacht. Die Nachrichten an der Säule sind zeitweilig, auf eine kurze Zeitspanne ausgerichtet und für die schnelle Wahrnehmung gestaltet und konzipiert.
Das Kunstprojekt nimmt dies in seiner Zeitweiligkeit und der scheinbar plakativen Botschaft auf. Mehrfach im Jahr wechselt das Äußere, neue Künstlerinnen und Künstler kommen zu Wort, finden eine anderen Ausdruck, neue Aspekte. Dies erfolgt im Widerspiel zu der nunmehrigen Aufgabe an sich – der wiederum konstanten Erinnerung.

Die momentane Gestaltung wurde am 3. Juni eingeweiht im Rahmen der Biennale „Foto Wien“. Sie zeigt Arbeiten von dem australischen Fotografen Daniel Longo, großformatige Schwarzweissfotografien als Teil seiner Serie „Enter as Strays“ (ungefähr zu übersetzen mit „Tritt ein als Streuner“). Er beschreibt diese Arbeit selbst so: „Enter As Strays beginnt mit der Bewertung der Unverbundenheit und der wahrgenommenen mentalen Kämpfe, die ich mit mir selbst habe. Diese realen oder auch eingebildeten Kämpfe finden im Gewöhnlichen statt, während ich durch fremde Länder wandere. Ich treffe bewusst Entscheidungen, die mich in Fehler oder moralisch fragwürdige Situationen führen. Während ich mich in diese Umstände begebe, genieße ich die Erfahrung, obwohl es als moralisch falsch angesehen werden könnte, „wen“ (ist das wichtig?). Ich glaube jedoch, dass diese Erkundung zur Bewertung meines Selbst mit der Idee endet, dass ich letztendlich das wahre Selbst meiner Identität reparieren oder finden sollte. Die Fotografien sind eine Projektion meiner Suche nach dem echten und dem unechten Selbst, das in meiner eigenen Identität existiert.“ (Quelle)
Auch Gedenken wird so als Teil in das eigene Bewusstsein verlagert. Dies erklärt auch das Befremden, wenn man sich den Säulen mit dem Fotos nähert. Sie scheinen lediglich Blitzlichter eingefrorener Szenen zu sein, Fetzen der Erinnerung oder herausgerissen aus Filmen. Nichts erklärend, ohne Kontext. Ein sich Selbstüberlassen mit den mir fremden Erinnerungen des Künstlers, die die Synapsen meiner eigenen Bilder in mir suchen. Ob sie zu finden sind, bleibt offen.

Die Fotos sind noch bis zum 3.8.2023 am Yppenplatz zu sehen.

Servicelinks

Die Projektseite – www.sammlungdichter.com

Auf Geschichtswiki Wien – www.geschichtewiki.wien.gv.at

Seite von Daniel Longo – www.daniellongo.com.au

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