Im Bundestag war ich noch nie. Die Volkskammer habe ich einmal besucht, im Juni 1990 anlässlich der großen Demonstration der Studenten davor, die nach ihrer sozialen Zukunft im bald wiedervereinigten Deutschland fragten. Nach dem Entrollen eines Transparentes in Parlamentsraum zu diesem Thema bekam ich lebenslanges Hausverbot vom damaligen Innenminister Diestel verordnet. Dies war verschmerzbar, schon einige wenige Monate später waren Volkskammer und Innenminister Geschichte. Das Gebäude selbst, der Palast der Republik, war schon vorher wegen Asbest geräumt worden und ist mittlerweile zugunsten einer Schlossimitation abgerissen.
Insofern nähere ich mich dem Bau, welcher in prächtiger neoklassizistischer Architektur die Ringstraße schmückt, mit einer Mischung aus Neugier und Respekt. Das österreichische Parlament ist leicht zu besuchen. Entweder registriert man sich vorher online, dann bekommt man einen QR-Code, oder man gibt am Eingang seinen Ausweis ab, was auch nicht lange Zeit dauert. Nach einer Sicherheitskontrolle ähnlich eines Flughafens erreicht man das Besucherzentrum im Untergeschoss. 2017-2022 wurde das Parlament generalsaniert, ein Ergebnis sind diese neue Räumlichkeiten, die in ehemaligen Lagerflächen entstanden und nun „Demokratikum“ heißen. Hier kann man sich, wenn nicht schon online gebucht, für (kostenlose) Führungen anmelden, Ausstellungen zur Demokratiegeschichte Österreichs und speziell des Parlamentes ansehen und – natürlich – gemütlich Kaffee trinken.
Ich habe eine längere Führung gebucht, dem Leiter gelingt es durch eine in sich ruhenden selbstverständlichen Präsenz schon am Anfang für Ordnung zu sorgen, weil sich einige Leute beschweren, dass die Führung zweisprachig statt wie geplant deutsch erfolgt, da sich uns auch fremdsprachige Besucher angeschlossen haben – „Wir sind doch gastfreundlich als Wiener – oder?“
Die Freundlichkeit setzt sich fort, in der ersten Etage läuft der Nationalratspräsident Sobotka an uns vorbei und grüßt höflich. „Na, ist das nicht ein schönes Gebäude? Schön dass Sie da sind und es sich ansehen…“ Unser Führer wird uns später darauf aufmerksam machen, dass Sobotka ein tschechischer Name ist, was für Wien nicht besonderes ist. Wien galt zu Ende des Kaiserreiches als zweitgrößte tschechische Stadt Europas nach Prag, rund 300.000 Tschechen lebten damals hier. Angezogen wurden sie von den Arbeitsmöglichkeiten, nicht nur der Industrie, sondern auch auf den vielen Baustellen der Stadt. Vergleichbar ist dies möglicherweise mit den Polen, die in den Bergwerken und Hütten im Ruhrgebiet zur gleichen Zeit arbeiteten – was ein Schimanski im Ruhrpott ist, ist ein Sobotka in Wien.
Insbesondere auf den Baustellen der Ringstraße waren tschechische Arbeiter der Normalfall, sie schufteten für das Parlament wie auch die Museen oder die großbürgerlichen Prachtpalais, und blieben in der Stadt. Wobei das Parlament ja auch für die tschechischen Abgeordneten mitgedacht war, damals gehörten Böhmen und Mähren zum k.k.-Teil der k.u.k.-Monarchie, zu Cisleithanien. „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ lautete die offizielle Bezeichnung seit 1867 für dieses Gebiet (der andere Teil der k.u.k-Monarchie trug nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich den Namen „Länder der Heiligen Ungarischen Stephanskrone“), und der Reichsrat tagte ab 1883 in diesem Gebäude. Er war am Anfang ein Zwei-Kammersystem, dem Herrenhaus mit auf Lebenszeit ernannten adligen Mitgliedern und dem Abgeordnetenhaus, zunächst nach Kurienwahlrecht, also in Wahlklassen gewählt, ab 1907 über ein allgemeines Männerwahlrecht. Frauen konnten erst in der Republik Österreich wählen. Diese Zweiteilung spiegelt sich auch in der Architektur wider mit ihren zwei großen Flügeln. Die Säulenhalle verbindet die Teile, bewusst auch dafür angelegt, damit sich die beiden Parlamentsteile in gemeinsamen Flanieren verständigen können. Diese Zweiteilung gibt es bis heute – der Nationalrat als direkt Parlament und der Bundesrat als indirekt gewählte Vertretung der Bundesländer, wobei im Gegensatz zu Deutschland die Delegationen nach den Stimmenverhältnissen der jeweiligen Länderparlamente zusammengesetzt sind. Allerdings stimmt die räumliche Zuordnung nicht mehr, der Nationalrat tagt in dem im 2. Weltkrieg zerstörten und innen im Stil der 50er Jahre wieder aufgebauten ehemaligen Herrenhaus, der Bundesrat in einem Zwischenraum, wo früher die cis- und transleithanischen Delegationen ihre Verhandlungen führten, der ehemalige Nationalratsraum ist verwaist und wird nur gelegentlich genutzt, wenn Nationalrat und Bundesrat zu Staatsakten zusammen tagen.
Mit Theophil Hansen wurde ein gebürtiger Däne Architekt des Parlamentsgebäudes. Schüler von Friedrich Schinkel, später lange Zeit in Athen arbeitend, hat er seine Gebäude streng nach klassischen Maßstäben und Formen gebaut. Das Gebäude ist überbordend mit antiken Anspielungen, vor dem Gebäude thront die Athene als Symbol der Weisheit (eine geplante Austria hatten die selbstbewussten Kronländer abgelehnt) mit einer kleineren Nike als Siegesgöttin in der Hand. Auch wollte Hansen das Gebäude farbig gestalten, wie ehemals die antiken griechischen Tempel auch (diese Erkenntnis hatte sich damals durchgesetzt).
Doch ein Veto des kaiserlichen Hofes verhinderte dies, allerdings sieht man die Muster noch an der Parlamentsseite, ansonsten strahlt der Bau in Weiß.
Nach der beeindruckenden Säulenhalle und ein Schwenk durch das ursprüngliche Foyer versammeln wir uns im offiziellen Raum zum Innehalten, einen Raum, der ausdrücklich für Abgeordnete bestimmt ist, damit sie dort in Ruhe noch einmal die Entscheidungen persönlich überdenken können.
Über lange Flure erreicht man den alten Nationalratsraum, original erhalten. Im Rund stehen die alten Sitzreihen, auf den kleinen Tischplatten davor sind wie in der Schule ehemals Löcher für Tintenfässer und Stifte angeordnet.
Vor der Tür gibt es andere beachtenswerte Kleinigkeiten – z.B. Zigarrenhalter. Unterbrach man seine Anwesenheit zu einem Rauchgang, konnte man schnell wieder zu den Verhandlungen im Nationalrat zurückkehren, seine Zigarre wartete in einem reservierten festen Platz. Zu Kaisers Zeiten muss es hier laut und oft unverständlich zugegangen sein, alle Nationen, ob Polen, Ukrainer, Tschechen, Ruthenen u.v.a.m. durften in ihrer Heimatsprache sprechen, erst im Protokoll wurde übersetzt. Manch berühmte Namen der nach 1918 neu gegründeten Staaten saßen schon hier. Masaryk, der Vater der Tschechoslowakei, wird extra mit einem Schild gewürdigt.
Doch auch die anderen Sitzungssäle werden normal bei der Führung besucht. Für den deutschen Bundestag wohl eher unvorstellbar, wird man hier aufgefordert auf den Sitzen der Abgeordneten oder sogar auf der Regierungsbank Platz zu nehmen, um den Führer zu lauschen. Die Selfies auf dem Bundeskanzlersitz sind einkalkuliert. Auch, dass die Schubladen der Tische aufgeschoben werden und die Vorräte an Kaugummi, Stiften und Notizzetteln geprüft werden. Nein, das nimmt nichts von den Oben und Unten auch in einer parlamentarischen Demokratie und den speziellen österreichischen Gegebenheiten, wo eine rechtpopulistische FPÖ schon an Regierungen beteiligt waren und sich Bundeskanzler hörige Presse kaufen konnte. Doch die eine Anmutung, dass das Haus nicht nur Erhabenheit und Abstand vermitteln soll, sondern auch eine gewisse Bürgernähe, die aber nie hemdsärmelig wird, ist zu spüren. Im Zentrum der Macht herrscht das typisch wienerische, ironische Understatement. Als ich das Gebäude verlasse, sehe ich, wie 300.000 Menschen bei der Pride-Parade fröhlich auf dem Ring am Parlament vorbei demonstrieren.
Wer man einen Besuch des Parlamentes plant, sollte einen Besuch des heute zum Parlamentes Palais Epstein einplanen. Zum einen ist es repräsentativ für die Prachtbauten des Bürgertums Ende des 19. Jahrhunderts, zum anderen hat es seine besondere Geschichte. Der Bauherr, Gustav Epstein, aus einer Prager jüdischen Familie stammend, war durch Baumwolldruck und Textilgroßhandel reich geworden, verkaufte dies jedoch und gründete eine eigene Bank. Im Krieg 1866 stützte er das Kaiserhaus politisch und finanziell, u.a. ein Grafentitel war der Lohn. Er spielte eine erste Rolle in der Wiener Stadtgesellschaft – Verwaltungsdirektor der Nationalbank, Vorstand der „Westbahn“ und mehrerer Baugesellschaften, Vorsitzender der israelitischen Kultusgemeinde. Unmittelbar neben dem Parlament als Einzellage an der Ringstraße gelegen, war das Baugrundstück beim Erwerb das teuerste von ganz Wien. Der Baumeister war derselbe wie der des Parlamentes, Theophil Hansen, die Formensprache die nämliche. Geht man durch den Hof und die Räume, bekommt man einen guten Eindruck von der Weitläufigkeit und konsequent durchgehaltenen Stil eines derart extravaganten Baues der damaligen Bourgeoisie.
Wir durchschreiten weitläufige Esszimmer, Rauchersalons zum Verweilen nach den Diners danach für die Herren, Kaffeezimmer analog für die Damen, alles durch große Schiebetüren erweiterbar. Im Erdgeschoss waren die Räume seiner Bank, noch heute funktionieren die metallenen Schutzschilder vor den Fenstern und werden gern bei der Führung vorgeführt.
Doch lange konnte sich Eppstein seines Besitzes nicht erfreuen, 1873 durch einen Börsenkrach und den Betrug seines Kassierers finanziell gescheitert, konnte er noch bis zum Tod seines Sohnes 1876 das Haus mit Krediten halten, dann musste er es räumen, wenig später ist er gestorben. Zunächst von der „Imperial Continental Gas Association“, die die Gasversorgung des Wiens betrieb, gekauft, kam das Gebäude 1902 in k.k. Staatsbesitz. Verwaltungsgerichtshof und Wiener Stadtschulamt folgten als Nutzungen, auch die Nazis behielten es als Bauamt.
Nach 1945 bis 1955 wurde es Sitz der sowjetischen Kommandantur als eine der Besatzungsmächte Österreichs. Es galt als ein berüchtigtes Verhörzentrum nebst Folterzellen und Verwahrräumen, für die Wiener Behörden war es grundsätzlich unzugänglich. Bei der Restaurierung des Gebäudes fanden sich einige Überreste der Sowjetsoldaten, die auch ausgestellt sind. Nach 1955 wieder überwiegend als Schulamt genutzt, meldete das Parlament Raumbedarf an, so dass es im Jahr 2000 an dieses fiel.
Wer nach diesen Runden sich erfrischen muss, kann dies im – recht teuren – parlamentseigenen Restaurant im Dachgeschoss tun. Ich empfehle etwas Anderes, und komme zu einem dritten Prachtbau in der Nähe, gleich hinter einem kleinen Park beim Parlament gelegen. Es ist der Justizpalast, ebenfalls im Neorenaissance-Stil 1875-81 erbaut, wenn auch diesmal von einem anderen Architekten, von Monteforte. Berühmt wurde er durch ein Ereignis aus dem Jahr 1927. Nach einem Fehlurteil, dem Freispruch von rechten Frontkämpfer an Morden in Schattendorf, stürmte eine Menschenmenge am Folgetag u.a. Universität, Zeitungsredaktionen und eben auch den Justizpalast und setzte ihn in Brand. Die Polizei eröffnete das Feuer, 89 Menschen starben. Es war der Beginn des österreichischen Weges, der nach den bürgerkriegsähnlichen Ereignissen des Jahres 1934 in den austrofaschistischen Ständestaat mündete. Nach dem Brand historisierend wiederaufgebaut und um ein Stockwerk erhöht, hat er bis heute seine Funktionen erhalten, nur in der Besatzungszeit war zusätzlich die interalliierte Kommandantur untergebracht. Auch hier muss man sich an Eingang einer Sicherheitskontrolle unterziehen, danach gelangt man in den überwältigenden Innenhof, auch Aula genannt, mit einem imposanten Treppenaufgang. Man kann frei nun die langen Flure durchstreifen, ich empfehle den Fahrstuhl zum Dachgeschoss, 2007 von unten nicht sichtbar aufgesetzt.
Dort befindet sich das Justizcafé mit einer wunderbaren Dachterrasse. Es gibt kaum einen schöneren Ort im ersten Bezirk, um bei einem Glas Wein nebst guten Essen und mit einer beeindruckenden Rundumsicht auf Wien, umgeben von mediterranen Pflanzen seine müden Beine erholen zu lassen – oder mit einem Frühstück dort morgens den Tag zu beginnen.
Doch was ist nun mit dem Kaiser im Nachthemd? Franz Josef hat das Parlament nie gemocht. So verzichtete er auch auf sein Rechte und Pflichten, ähnlich wie der englische König die jeweiligen Parlamentsperioden mit einer Thronrede zu eröffnen. Nichts desto trotz wurde er als oberster Repräsentant des Staates auf dem Gebäude abgebildet. Am Giebel nimmt er die Huldigungen der Kronländer entgegen, gekleidet im klassischen antiken Stil mit einer Toga. Die Wiener war dieses Kleidungsstück scheinbar nicht bekannt, da sich zudem eine gewisse Ironie zu dem Kaiser und seinem ungeliebten Gebäude einstellte, wurde er als Kaiser im Nachthemd verspottet.
Servicelinks:
Parlament: www.parlament.gv.at
Zutritt und Führungen: www.parlament.gv.at/erleben
Justizpalast: www.ogh.gv.at/der-justizpalast/
Justizcafe (Mo-Fr 8:00-16:00, da Kantine vertretbare Preise): justizcafe.at/