Nach den „Säulen der Erinnerung“ möchte ich hier eine weiteres Projekt im Wiener Stadtraum aufgreifen:
Installation an der Station der U2 – Herminengasse
Diese Arbeit war mir schon vor meiner Wienreise bekannt. Der Gedenkort wurde von der Künstlerin Michaela Melián entworfen, die sich auch am Wetbewerbsverfahren für den Boto-Graef-Preis der Stadt Jena beteiligte, einem Projekt über das verschwundenen Bild Prof. Eduard Rosenthals und der damit einhergehende Auslöschung dieses Mannnes aus dem Gedächtnis der Universität und Stadt (Link). Der Ort Herminengasse wurde dabei als Beispiel benannt, wie sich Erinnern und konkrete Orte miteinander verbinden lassen, ein geographisch und biographischer Kontext zugleich entsteht.
Die U-Bahnstation Schottenring empfängt mich orientierungslos. Ein Gewirr an Treppen und Fahrstühlen, endlose Gänge, viele Verweise auf andere Linien und Umsteigemöglichkeiten. Kein Wunder, liegt die Station doch gewissermaßen auf beiden Seiten des Donaukanals. Kein direkter Hinweis auf das Kunstwerk ist zu finden. Vielleicht ist dies gewollt – zu suchen von denjenigen, die es eben bewusst „aufsuchen“ wollen, zufällig im Vorbeigehen gesehen von den üblichen Passanten. Irgendwann wird mir der Ausgang Herminengasse angezeigt, ich nehme die richtige Abzweigung und gelange zu einen vielleicht 15m langen Gang.
Dem Gedenkort ging eine historische Arbeit voraus, die gemeinsam von der Künstlerin mit der Historikerin Tina Walzer erforscht wurde. Die U-Bahnstation Schottenring verbindet in ihrer Länge unter den Kanal den 1. Bezirk, die Innenstadt, mit dem Leopoldsviertel, ein bis zur Eingliederung Österreichs in Hitlerdeutschland bevorzugtes Wohnviertel der Wiener Juden. Die Herminengasse selbst war einer der dicht bewohnten Straßen hier, 11 von 21 Häusern waren in jüdischem Besitz. 600 Menschen waren schon auf einer Liste des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes verzeichnet, die aus dieser Gasse in der Nazizeit deportiert wurden. Das Team um Walzer recherchierte nach, verglich Melde- und Abmeldeformulare, verband Namen mit Hausnummern, um zu ermitteln, wie viele Jüdinnen und Juden tatsächlich in den einzelnen Häusern wohnten. Bei einzelne Adressen zählte sie in der Nazizeit bis zu 300 dort wohnende jüdische Leute, ein Hinweis, dass sich in einigen Häusern Sammellager befanden. Insgesamt konnte für die Zeit 1938 -1945 1322 jüdische Menschen in der Herminengasse nachgewiesen werden. Doch Walzer und Melián forschten weiter. Für 800 Menschen gelang es herauszufinden, in welche Lager sie deportiert wurden, bei weiteren 500 Leuten bleibt eine „Leerstelle“. Wir wissen nicht, was mit ihnen passierte, ob sie sich vielleicht durch Flucht und Verstecken retten konnten, nur nicht mit ihrem weiteren Leben „erfasst“ waren, den Freitod wählten… Diese Leerstelle bleibt beispielhaft für unser Nichtwissen über die Schicksale der Opfer dieser Zeit.
Melián hat dieses historische Ergebnis fast mathematisch exakt umgesetzt. In der Mitte des Ganges symbolisieren schwarze Striche die einzelnen Häuser der Herminengasse. Die Strichlängen hängt dabei ab von der dort jeweils ermittelnden Zahl wohnender Menschen. Aus diesen „Häusern“ heraus verlaufen schwarze Linien nach rechts und links. An dem jeweiligen Endes des Ganges sind die Namen der Lager und Ghettos aufgeschrieben, jede einzelne Linie aus einem Haus in eines der Lager und Ghettos symbolisiert den Weg des jeweiligen Menschen von seinem Haus an diesen Ort. Da die Namen der Lager nicht geographisch, sondern alphabetisch an den jeweiligen Enden angeordnet sind, entsteht jedoch keine Karte oder ein geografischer Raum. Es bleibt eine abstrakte Darstellung der einzelnen Biografie, einer Lebensstrecke. Weitere graue Linien hinter der Darstellung symbolisieren das österreichische Eisenbahnnetz. Ein Begleitbuch ergänzt Informationen, veröffentlicht persönliche Fotos und Aufzeichnungen, erzählt Geschichten von Verschleppten.
Eine beabsichtigte Wirkung ist, dass der U-Bahnnutzer quasi im alltäglichen Passieren die Gasse automatisch durchläuft, an den Häuser vorbeigeht und das Geschehen so zur Kenntnis nehmen kann. Mir ging es nicht so. Für mich war die Konzentration der Striche, der Häuser in der Mitte eher eine Sperre, ein Blockade, die man durchschreiten muss, um die Station zu betreten. Und beim Durchgehen dann den Raum aufmacht zu den Vernichtungslagern, sich auf einmal selbst in den Spannungsfeld der Linien befindet.
Doch egal welche Wirkung sich bei den Betrachtenden einstellt, gerade an einem so öffentlichen wie normalerweise dem Gedenken fremden Ort ist entscheidend, ob sich überhaupt eine Wirkung, eine Irritation zeitigt. Der gewöhnlich Passant ist in einem U-Bahnschacht mit anderen Gedanken beschäftigt, auf der Suche nach dem Ausgang, des Erreichens des nächsten Termins, das Erledigen des alltäglichen Einkaufes, beim schnellen Schritt, um den zu Abfahrt stehenden Aufzug noch zu erreichen. Wie kann da das Kunstwerk ihn ablenken, Aufmerksamkeit erzeugen? Als ich eine Zeitlang nur an den Gang stehe und beobachte, fällt mir keiner auf, der sein Hasten unterbricht, sein Blick wendet, gar stehenbleibt. Erst als ich anfange zu fotografieren, werden die Leute irritiert. Was fotografiert der denn da, welche Motive sind hier in einer U-Bahn zu finden? Manche blicken mich fragend an, für andere bin ich ein Hindernis, doch einige fangen an den Blick zur Seite auf die Linien zu richten und gar die Legenden an den Eingangsbereich zu lesen. Sollte jetzt täglich jemand zum Fotografieren vorbeikommen? Oder ist der Gedanke tröstlich, dass es passieren kann, wenn tausende täglich diese Stelle passieren, dass ein kleiner Teil, und wenn es nur drei, vier Leute am Tag wären, doch auf den Gedanken kommt, seinen Blick zu wenden?
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