Zum Baden in die Sargfabrik zu gehen, würde auch hier in Wien nicht als morbide betrachtet. Es ist Teil eines Wohnprojektes, das seit den 90er Jahren im 14. Bezirk Wiens besteht. Gelände und Ursprungsbauten dienten dabei tatsächlich der Produktion besagten Erdmöbels. Ende des 19. Jahrhunderts begannen „Maschner & Söhne“ an diesem Standort, diesen Friedhofsbedarf zu decken , bis 1970 existierte die Fabrik und verfiel seitdem. 1989 kaufte ein zwei Jahr vorher gegründeter Verein das Gelände, nach einer auch mit den Anwohnern streitigen Planungsphase begann 1994 der Umbau. Später wurde ein weiteres Grundstück einbezogen, eine ehemalige Fingerhutfabrik (ja, auch solche Spezialfirmen gab es in Wien). Die ersten Bewohner zogen 1996 ein, heute wohnen 200 Menschen in den 112 Wohneinheiten, hinzu kommt ein sozialpädagogischen Wohnprojekt und kurzzeitige Vermietungen an Bedürftige – rund 20 Geflüchtete leben derzeit dadurch hier. Die Wohnungen sind zwischen 30 m² und 120 m² groß, gehen z.T. über 2 Etagen und sind individuell gestaltet. Zu jeder Wohnung gehört Freiraum, in den Höfen, auf den Terrassen und dem Dach (dazu später). Große Glasflächen, ungewöhnliche Anlage der Flure, verbindende Gemeinschaftsräume, hohe ökologische Standards – architektonisch ist das Gebäude ungewöhnlich und wurde mehrfach mit Preisen dafür ausgezeichnet. Dabei griff man auch zu Kniffs – um der Ausweisung vieler sonst notwendigen Stellplätze zu umgehen, wird die Anlage nicht als Wohnanlage sondern als Wohnheim geführt. Auf den dann lediglich nur noch vier notwendigen Stellplätzen stehen Carsharingsautos für die Bewohner.
Organisiert ist die Sargfabrik genossenschaftsähnlich, alle grundsätzlichen Entscheidungen tätigt eine Vollversammlung, ein ehrenamtlicher Vorstand und mittlerweile 20 Festangestellte stemmen die tägliche Arbeit. Jeder Wohnungsinhaber beteiligt sich an an der fortlaufenden Finanzierung des Projektes und zahlt Nebenkosten, bei Auszug wird nicht ausgezahlt. Trotzdem sind die laufenden Kosten günstiger als sonst in Wien. Die Warteliste ist lang, es ziehen wenige aus. Auf den ersten Blick scheint das Projekt gut die Balance zu bewältigen, sowohl die individuelle Sphäre ihrer Bewohnerinnen zu wahren, gemeinschaftliche Aktionen wie Bücherei und gemeinsames Kochen zu gestalten und sich zugleich nach außen zu öffnen. Zugegeben, zu den ersten zwei Bereichen fehlen mir tiefere Einsichten.
Die Öffnung in das Viertel (Grätzl, wie man in Wien sagt) geht über mehrere Schienen. Eine für das Viertel offene Kindertagesstätte nach Montessorivorbild gehört dazu. Auf jedem Fall aber das Cafè, das leckere und bezahlbare Gerichte anbietet (und korrekt als Kant_ine gegendert ist). Es gibt Kulturangebote, Konzerte auf dem Dach, Lesungen, Kino. Ja, und eben die Bademöglichkeit, die nicht nur die Bewohner nutzen können, sondern über einen Badeclub auch andere in Wien Lebende. Ein paar Mal im Monat sind ganz freie Termine – nur leider, die sind diesmal im Juni ausschließlich Frauen vorbehalten. Ich nehme einen andere Gelegenheit wahr, um die Sargfabrik kennen zu lernen. Ihre Namen aller Ehre machend, veranstaltet das Cafe einmal monatlich eine philosophische Diskussion.
Der Abend wurde aufgrund des schönen Wetters auf das Dach verlagert. Eine Bewohnerin nimmt mich schon einmal mit, sie muss nach ihren Bienen sehen. Auf dem Dach betrete ich keinen Dachgarten, sondern eine grüne Welt. Ein halber Meter Erde sind überall aufgeschüttet, so dass genug Untergrund vorhanden ist für Salatköpfe, Blumenbeete, Ausruhwiesen und Obstbäume. Man denkt sich in einem Wochenendgarten zu sein, wäre da nicht der Schornstein fast zum Anfassen daneben. Die Felsenbirnen sind schon reif und den Bienen geht es gut.
Auf den Stühlen an der einen Seite trudeln nach und nach andere Teilnehmende ein. Gast ist Monika Mokre, Thema philosophische Aspekte an den derzeitigen aktivistischen Bewegungen. Schnell sind neben einer Grundsolidarität auch kritische Fragen nach den Adressaten der Proteste, Grenzen der Radikalität aber auch der überbordenden Abwehr des Staates gegenüber den Protesten gestellt. Auch meine Kritik an der letzten Generation, wie wenig utopischer Raum bei ihnen zu spüren ist, der statt des ihnen eigenen chiliastischem Denkens mehr Leute zum Tun anregen könnte, findet eine positive Reaktion. Und am Ende nach einer radikalen Aktion, sollte es ja auch wieder ein Gespräch geben können.
Doch irgendwann verschwinden alle ernste Themen in der lauen Sommerluft auf den Dach eine Wiener Hauses.
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