Der Friedhof der Namenlosen

Alle die sich hier gesellen,
Trieb Verzweiflung in der Wellen
kalten Schoß.
Drum die Kreuze die da ragen,
Wie das Kreuz das sie getragen,
„Namenlos“.

(aus einem Gedicht v. Graf Wickenburg)

Der Ort liegt abgelegen, an der südlichen Grenze Wiens, dort, wo die Donau den Stadtraum verlässt. Der Bus quält sich von Simmering aus durch ein endloses Industriegebiet. Wir fahren an den Saurerwerken entlang, ehemals eine LKW-Fabrik, im zweiten Weltkrieg KZ-Außenlager und danach Rüstungsbetrieb, heute als „Wiener Werkhallen“ nur noch Filmkulisse. Gefühlt jede zweite Haltestelle heißt Haydestraße oder Haydequerstraße, dazwischen ein Autohof nach dem anderen. Der zentrale Müllsammelplatz, eine Biogasanstalt und die Wiener Müllverbrennungsanlage ziehen am Fenster vorbei, letztere durch ein großes Symbol mit der Selbstbezeichnung „48er“ der Wiener Müllentsorgung geschmückt. Die zentrale Kläranlage Wiens und ein Heizkraftwerk folgen. Eine Justizvollzugsanstalt macht den Abschluss. Danach fährt der Bus einige Kilometer nur noch über leeres Land. An der Endhaltestelle befindet sich ein halb erhaltenes Straßendorf, Albern mit Namen. Ich könnte auch in der Steppe Ungarns oder im Banat ausgestiegen sein – wie ich schon schrieb, Wien ist Balkan.

Die Felder werden von großen Gewächshäusern begrenzt, in denen wächst, was auf den Märkten und Bioläden als regionale Produkte vermarktet wird. Ein Gemüsebauer versucht mit einem blumenbepflanzten Trabi vergeblich einen Witz zu machen. Misstrauische Augen folgen mir. Eine Frau mit Hund fragt, was ich denn hier fotografiere. Als ich ihr antwortete, wohin ich des Weges bin, ist sie zufrieden und weist mir eine Abkürzung. Über Trampelpfade erreiche ich den Alberner Hafen. Links von ihm liegt ein heruntergekommener Imbiss mit den hochtrabenden Namen „Hafenkneipe“, der die Fernfahrer mit billigen Essen versorgt. Als ich ihn betrete, begrüßt mich die Servierkraft mit „Da kommt ja noch so ein Schöner“. Draußen kreisen am Mittag die Wodkagläser, zwei dicke Frauen torkeln zu ihrem Auto und brausen davon.

Ich laufe durch den Hafen, der überwiegend dem Getreideverladen dient. Große Speicher stehen hier, helle, gerade, nur der Funktion unterworfene Formen, ein paar hingeworfene Graffiti an den Wänden. Laster aus Ungarn, der Slowakei und der Ukraine schütten die Körner in sie hinein. Darüber spannt sich ein kitschiger blauer Himmel mit kleinen weißen Wolken. Wer mich kennt weiß, dass ich hier gern meine Fotomotive finde.

Die Hafenbahn stoppt an einem Prellbock, auf dem „Graffitiendstation“ gesprüht ist. Dahinter versucht der Fischereiverein, mit zwei kleinen Häuschen und und kleinem Garten ein Idyll gegen den Krach des Hafens vorzutäuschen. Recht davon befindet sich der gesuchte Ort.

Der erste sogenannte Friedhof der Namenlosen wurde 1854 bei Albern angelegt. Gerade an dieser Stelle verlangsamte sich die Strömung der Donau und ihre Toten trieben hier ans Land. 1899 wurde der alte Friedhof aufgelassen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hafen wurde der neue Friedhof der Namenlosen geschaffen. Die knapp 600 schon Bestattenen wurden nicht umgelegt, sie ruhen nun unter Fahrwegen und Auenbäumen. Der neue Friedhof wurde bis 1940 genutzt. Mit der Erweiterung des Hafen 1939 änderte sich die Strömung der Donau. Die Toten werden nun an anderen Stellen angeschwemmt und mittlerweile auf dem Zentralfriedhof begraben.

Unter den Toten, die hier liegen, sind wenige Unfälle, auch Kinder liegen hier. Einzelne Namen, manchmal auch nur die Vornamen, sind dann lesbar. Die meisten Gräber sind aber namenlos und mit denen verbunden, die in der Donau den Freitod suchten. Diese durften früher nicht in geweihte Erde gebettet werden. Albern hatte weder Friedhof noch Pfarrer, so das sie hier verscharrt wurden. Auf dem neuen Friedhof änderte sich dies. In den 30er Jahren wurde eine kleine Kapelle gebaut, in der einmal monatlich eine Messe stattfindet, zu Allerseelen wird symbolisch ein Grabstein über die Donau gefahren.

Der Ort ist kein stiller Ort, der Hafenlärm durchdringt die Luft. Aber er ist ein ruhiger Ort. Über hundert ähnliche, aber eben nur fast identische, Grabkreuze stehen hier, meist ohne Aufschrift oder nur mit dem Wort „namenlos“. Namenlos die Angst, die hier begraben liegt, die Verzweiflung des auf der Brücke Stehenden, bevor er, sie, das Geländer los lässt. Manchmal ist um das Kreuz eine Perlenkette gelegt, an einem anderen ein Stofftier hinterlassen. Weiß jemand um den hier Liegenden und traut sich nicht zu verraten, wer es ist? Oder ist es nur eine Vermutung und eine Geste des Abschieds?

Die Lilien des Friedhofes sind gerade vergangen, die Kerzen im letzten Regen verloschen, kein Vogel singt, das Kreischen des Krans ersetzt nicht dessen Melodie. In Vorbeigehen sah ich vorhin im Hafen den Spruch „No future!“ gesprüht, am Abend werde ich Extinction – Auslöschung, ein Theaterstück nach Thomas Bernhard, sehen. Hier, an diesem Ort liegt die Konsequenz, der letzte Schritt, der Rest.

An der Kapelle ist eine Stele angebracht, auf der eine neunjährige Sara schreibt: „Man muss nicht Angst vor dem Tod haben. Wenn man in den Himmel kommt, vergisst man alles Böse auf der Welt. Gott empfängt uns mit Liebe. Im Himmel geht es uns gut. Wir gehen durch ein Tor und Schmetterlinge und Sterne folgen uns.“

Ich gehe über den Deich zum Ufer des Flusses. Das graugrüne Wasser der Donau treibt schwer und träge an mir vorbei. Der Mohn blüht rot.

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