Das Hotel „Orient“ oder die Suche nach Wolf Wondratschek

„wenn man fast allein ist ist alles was es gibt fast allein“

(Getrude Stein)

Dieses Zitat stellt Wolf Wondratschek seiner Sammlung „Wiener Gedichte“ voran, in denen er über die Liebe, Katzen, den Tod und eben die Einsamkeit in Wien schreibt. Mir fällt sein Buch „Lied von der Liebe“, das auch die genannte Sammlung enthält, ein paar Wochen vor meinem Wienbesuch in die Hände. Ich blättere durch die Seiten. Nein, dies wird kein Reiseführer zu Orten, sondern zur Seele Wondratscheks in Wien. Dabei markiert er reale Straßen, ob Berggasse, Ringstraße oder Sensengasse – alle diese Wege kann man besuchen. Doch sie werden zu Metaphern, die Schwingungen seiner Existenz hier beschreiben. Nehmen wir das Gedicht „Haltestelle Sensengasse“, die real gegenüber der Bezirksvorstehung von Alsergrund liegt, im Text aber zum Synonym für die stete Anwesenheit des Todes wird, „Niemand in der Stadt ist berühmter als der Tod…“, der freundlich den Dichter grüßt, ihn bis in seine Wohnung begleitet und bis zum Einschlafen bleibt. „Keine Angst. Du gewöhnst Dich an seine Geduld.“ Nur das letzte Gedicht über das „Hotel Orient“, bleibt beim tatsächlichem Ort. Grund genug das Buch mitzunehmen auf die Reise und nach dem letzten Ort zu suchen. Doch ach, die Tasche ist ausgepackt und das Büchlein fehlt, liegt zu Hause auf dem Schreibtisch. Nun muss ich mich auf die Suche begeben nach dem Buch, seinen Inhalten und seinem Verfasser.

Das Hotel „Orient“ ist allerdings leicht zu finden, auch wenn es meist nicht in den Reiseführern steht. In einem las ich einen Hinweis darauf unter dem üblichen Kürzel „Geheimtipp“, doch was ist schon geheim, wenn es eine eigene Webseite unterhält. Diskret ist die bessere Zuschreibung und auch Selbstbeschreibung für dieses Etablissement. Es liegt im ersten Bezirk, etwas abseits der Touristenströme um die Burg und den Einkaufsstraßen. Man läuft den Tiefen Graben entlang, eine auf dem ersten Blick eine eher unscheinbare Straße, gesäumt mit Wohnhäusern und kleineren Pensionen, unterquert die Hohe Brücke, einen klassischen Wiener Jugendstilbau, der die Wiplinger Straße über die Straßenschlucht führt. Recht erscheint die österreichische Seefahrtsschule, ungewöhnlich für ein Binnenland. Dann folgt die Hausnummer 30, die das Hotel Orient beherbergt.

Von außen sieht man dem Hotel sein Angebot nicht an, einige Jugendstilornamente schmücken die Fassade, an die Erker angebaut sind, der Eingang ist mit den Hotel Orient überschrieben, ein Schild verweist auf eine Bar gleichen Namens.

„Seit Menschengedenken gehen dorthin
die Liebespaare und entkleiden sich
unter Liebkosungen einer Leidenschaft,
die auch Fiakerkutschern einleuchten.“

Doch woher nun das Buch in Wien beschaffen? Eine Bücherei? Auf meinen ersten Spaziergängen im Viertel, oder Grätzl, wie es hier heißt, bin ich zwei Straßenecken von meiner Wohnung entfernt auf das Literaturhaus Wien gestoßen. Ich lese auf seiner Webseite, es verstehe sich als Kompetenzzentrum für österreichische Gegenwartsliteratur und beherberge wichtige Institutionen, so die Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und die IG Autorinnen Autoren und die IG Übersetzerinnen Übersetzer (Originalorthographie). Eine Fachbibliothek mit 75 000 Bücher sei dort beheimatet. Sollte es mir da nicht gelingen, das Buch eines Dichters, der seit 30 Jahren in Wien wohnt und über die Stadt schreibt, zu finden? Ich betrete einen imponierenden Eingang und gelange durch weitere Türen in den Empfangsbereich des Literaturhauses.

Im Nachbarraum stehen lange Bücherregale, dies hebt meine Erwartungshaltung und lässt mich frohgemut den Tisch ansteuern, hinter dem eine junge Frau mich schon mit jenem Blick mustert, der diese unnachahmliche Mischung zwischen Freundlichkeit, Gelangweiltsein und Resteneugier enthält, die viele junge Menschen verströmen. Ich wäre auf der Suche nach einem Buch von Wolf Wondratschek, sage ich freundlich. Sie lächelt, von wem? Wondratschek mit W. Ah ja, die Finger schweben über der Tastatur. Ja, W am Anfang, in der Mitte dann d, vor dem sch ein t und am Ende nur k, kein ck. Die Tasten klappern. Nein, sie finde nichts. Ob ich noch einmal wiederholen könne. W-o-n-d-r-a-t-s-c-h-e-k, und Wolf wie Wolf davor. Wieder klappern die Tasten. Nein, nichts zu finden. Aber er würde schon Jahrzehnte in Wien leben. Die Fingernägel verharren ratlos, ihre Augen sehen mich mit freundlichem Nichtwissen an. Nein, da könne sie mir nicht weiterhelfen. Ob jemand anderes hier ggf. da weiter wüsste. Nein, im Computer stehe nichts. Nun bin ich meinerseits ratlos. Der Wortwechsel versiegt, wir verharren in einer längeren Runde schweigenden, sich gegenseitigen Anblickens. Ich erhalte noch die Erlaubnis, ein Foto zu machen, dann verlasse ich das Kompetenzzentrum Literaturhaus wieder.

Langsam entweicht der schlechte Schlaf
anderer Gewohnheiten, man wagt zu lachen.

Im Hotel „Orient“ bucht man üblicherweise die Zimmer für drei Stunden. Mehr ist auch wochentags nicht möglich, lediglich am Wochenende erlaubt das Hotel auch Nächte weise Aufenthalte. Auf seiner Webseite erscheinen die Zimmer etwas plüschig und verschwommen. Sie tragen Namen wie „Schwarze Tulpe“, „ Amethyst“ oder „1000 und eine Nacht“. Die Nutzung eines Pseudonyms wird für die Buchung nahegelegt und die Hotelleitung verspricht: „Jeder Gast betritt das Hotel zum ersten Mal, egal wie oft er bereits hier war.“ Vor dem Haus parken unscheinbare Allerweltsautos, es ist Sonntagvormittag, die Zeit, wo die ganze Nacht vermietet wird und scheinbar lange geschlafen oder das versprochene Sektfrühstück eingenommen wird. Kein Gast ist zu sehen, aber ich bin auch kein Paparazzo, der dort jemanden fotografieren will. Einige Passanten eilen vorbei, doch sie sind auf dem Weg zu weniger fleischigen Gelüsten, die nahe Glocke einer Kirche verheißt die Erbaulichkeit einer Messe. Auch ich verkürze mein Stehen vor dem Hotel. Soll doch die Undurchdringlichkeit der Fassade alle Spekulationen und Vorstellungen des auf sie Schauenden oder diese Zeilen Lesenden selbst befruchten.

Das Fleisch der Frauen, dieses Diebesgut,
das es zu teilen gilt, schwerer ist es
als die samtenen Vorhänge, deren Farbe
daran erinnert, daß hier keine Kinder gezeugt werden.

Meine Suche nach Wondratschek führt mich nun in die Buchhandlungen der Stadt. Das erste Antiquariat, was ich aufsuchen will, hat geschlossen. Die folgende Buchhandlung ist der Literatur des ex-jugoslawischen Raumes gewidmet, keine Chance für einen den Vornamen Wolf tragenden Autor. In der Burggasse betrete ich die Buchhandlung zum Gläsernen Dachl. Die hohen Regale sind vollgestopft mit Büchern, der ganze Raum lädt zum Stöbern und Suchen ein, meine Hoffnungen wachsen wieder. Eine ältere Dame bemerkt meinen erwartungsvollen Blick, und fragt nach meinem Begehr. Nein, leider kennt auch sie Wondratschek nicht, aber der Inhaber könnte mir bestimmt weiterhelfen, auch sagen, ob es zu bestellen wäre.

Ich hinterlasse meine Telefonnummer und suche im gegenüberliegenden, alternativ wirkenden Café „Espresso“ Trost bei einem Kaffeegetränk. Dabei mache ich die beruhigende Erfahrung, dass es in Wien nicht nur den freundlichen, kompetenten Kaffeehauskellner oder auch die grantige Version desselben gibt, sondern ebenfalls die auch von anderen Großstädten bekannte freundlich-unfähige Servicekraft, die auf dem Weg von Tisch zur Theke schon einmal die Bestellung vergisst. Bevor ich über diese die Metropolen der Welt scheinbar verbindende Eigenschaft weiter nachsinnen kann, klingelt mein Telefon. Der Buchladenbesitzer meldet sich, ja er könne das Buch besorgen, aber es gebe zwei Varianten, welche es denn sein sollte. Ich vereinbare, nach dem Kaffee vorbeizukommen. Ja sagt Herr Jöbstl zu mir, den Wondratschek kenne er schon, der wohne ja auch hier im Viertel. Und er als alte Kärntner, der wie Wondratschek nun schon lange in Wien leben würden, würde ihn schätzen. Ich verschweige als höflicher Thüringer, dass Wondratschek 1943 in Rudolstadt geboren ist. Wir einigen uns auf die antiquarische Bestellung, es ist derselbe dtv-Band, wie der in Jena verbliebene. Eine Woche soll es dauern, man melde sich.

Auch sonst wird aus dem,
was hier geschieht, nie ein ganzes Leben.

Der Mythos will, dass das Hotel „Orient“ schon seit 300 Jahren an seiner Stelle stehen soll. Prominestester Gast dieses Etablissement im 19. Jahrhunderts sei Kaiser Franz Josef höchstpersönlich gewesen. Es taucht in Filmen und in der Literatur auf. Der „Dritte Mann“ wird hier z.T. gedreht , John Irving soll das Hotel als Vorbild für sein Hotel New Hampshire im gleichnamigen Roman genommen haben. Ernst Molden schrieb hier seine „Krokodilsdame“. Musiker wie Udo Lindenberg oder „Die Ärzte“ feierten im Haus, Tatortkommissare spielten Szenen in seinen Räumen als Kulissen. Und eben Wondratschek schrieb hier Gedichte, u.a. das nämliche mit dem Namen als Titel.

Es reicht, sagt er, die Zeit nicht.
Und sie, seit Menschengedenken will sie
darüber weinen, glaubt ihm.

Nach einer Woche erhalte ich Nachricht vom Buchhändler. Das Buch sei angekommen. An einem Freitagabend um acht gehe ich zufällig noch einmal durch die Burggasse. Sie ist mir einer der liebsten Straßen Wiens geworden. Ich bemerke, dass beim Gläsernen Dachl noch Licht ist und die Tür offensteht. Im rückwärtigen Raum probt eine Musikgruppe, vorne überreicht mir Herr Jöbstl das ersehnte Exemplar. Wir freuen uns beide, uns über den Weg gelaufen zu sein.

Ich nehme das Buch mit auf meinem Weg zum WIRR, ein Cafè und Bar in einem. Ich werde es später noch öfters besuchen und immer auf denselben Stuhl sitzen, in der Mitte des Raumes mit dem Rücken zum Tresen und den Blick durch das weitgeöffnete Schaufenster in die Sommernacht hinein die Hermanngasse hinauf. Dort grüßt mich der helle Kreis der Uhr des Hermannbades vom Himmel herab. Es gibt keinen besseren Ort und keinen schöneren Moment, um Wondratschek zu lesen.
Und um sein Zitat wiederzugeben, das er am Ende seiner Wiener Gedichte nach dem „Hotel Orient“ aufschrieb:

„Die Sünde ist unvermeidlich,
doch alles wird gut
Und Dinge aller Art nehmen ein gutes Ende.“

T.S. Eliot, Four Quartets

Servicelinks:

Hotel Orient: www.hotel-orient.at
Buchladen Gläsernes Dachl: www.glaesernesdachl.at
WIRR: www.wirr.at

Nichtservicelink:

Literaturhaus Wien: www.literaturhaus.at

Ein Kommentar

  1. Ich habe den Text mit Vergnügen gelesen. Es erinnert mich ein wenig an Lissabon und die Geschichte des von José Saramago-Das Todesjahr des Ricardo Reis. Ich freue mich auf mehr.

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