Der Gegenstand dieses Beitrages ist mir schon vor zwei Jahren aufgefallen. Mittlerweile habe ich etwas nach recherchiert, nun ist er mir ohne langes Suchen wieder begegnet: die öffentlichen Personenwaagen. Von ihnen gibt es in Wien über 150 Exemplare. Fragt man jedoch Bekannte, die jahrelang in Wien gelebt haben, erinnern sie sich meist nicht an diese Straßenbeigleitgaben, obwohl sie sehr oft daran vorbei gelaufen sein müssten.
Zu übersehen sind sie wahrscheinlich, weil sie trotz ihrer Größe eine gewisse Schlichtheit ausstrahlen – oder sollte man eher von einem strengen Design sprechen? Einem kleinem Stehpodest folgt eine langen Stele, die in eine großes, kreisförmiges Anzeige mündet, auf der ein Zeiger an einer Skala das Gewicht anzeigt und durch dessen Glas man die Mechanik erkennen kann. Ein großer Pfeil weist auf den Münzschlitz. Meist gelb und rot lackiert, z.T. auch verchromt, stehen sie für ihre Aufgabe bereit.
Die ersten derartigen Personenwaagen wurden schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien aufgestellt, das jetzige Design stammt wahrscheinlich aus den 30er bis 50er Jahren. Seit über hundert Jahre messen also diese Waagen präzise und leidenschaftslos die in den Wienern und ihren Gästen abgespeicherten Energieeinheiten, egal ob sie ursprünglich aus Schnitzel, Esterhazy-Schnitte oder Schlagobers stammen. Ob hinter der ersten Aufstellung – zeitlich etwas später als die Erfindung der Kaffeehäuser – ein volkspädagogisches Konzept stand, ist nicht überliefert (wobei bedenkenswert ist, dass die Maximalgrenze bei 150 kg liegt). Wohl aber sind die Waagen über die ganze Stadt verteilt, sowohl in den bürgerlichen Vierteln wie auch in den sozialen Brennpunkten. Selbst die Bannmeile des Parlamentes ist nicht von ihnen verschont. Witze zu Diäten bitte ich an dieser Stelle allerdings zu unterlassen.
Häufig stehen sie an Straßenbahnhaltestellen. Aus behördlicher oder göttlicher Gemeinheit heraus (dies lässt sich in Wien meist nicht unterscheiden) liegen in ihrer unmittelbarer Umgebung oft auch die Würstelstände mit ihren verlockenden Angeboten. Beide scheinen sich allerdings nicht gegenseitig die Kundschaft zu nehmen.
Unterhalten werden die Waagen heutzutage von einem Schlosser aus dem Burgenland mit seiner Frau, in deren Besitz sie mittlerweile auch sind. Es scheint ein sich tragendes Geschäft zu sein, auch wenn ich persönlich nie einen Menschen auf so einer Waage gesehen habe. Dafür sind sie so stabil gebaut, dass auch nach Jahrzehnten fast keine Reparaturen notwendig sind, Sollte wirklich einmal ein Teil ausgetauscht werden müssen, fertigt es der Schlosser auf seine Fräsmaschine selbst nach. Allerdings wird er und seine Frau bald ohne Nachfolger in den Ruhestand gehen, ein Wiener Kulturgut ist in Gefahr.
Die lange Dauer ihres Bestehens verwundert in diesen unseren Zeiten, wo selbst die Badwaage mit der Fitness-App des Handys vernetzt ist und aufgrund der übermittelten Werte die Smartwatch die Trainingszeit automatisch verlängert. Nein, diese Waage ist strikt analog. Steht man darauf und wirft den geringen Betrag von 20 Cent ein, schlägt der Zeiger einmal aus (und aus und aus …), geht aber sogleich auf null zurück, wenn man die Waage verlässt, und gibt den gelesenen Wert nirgendwo weiter. Die in meiner Jugendzeit in der DDR meist auf den Bahnhöfen aufgestellten Wiegeautomaten spuckten ja noch ein den Fahrkarten ähnliches Pappkärtchen aus, auf dem das Gewicht gedruckt stand (und das über den Weg des Auffindens in der Jackentasche tatsächlich die Fahrkarte zu Diskussionen mit Freundin oder Mutter wurde). Hier nicht, hier gibt es einen fast intim zu nennenden Moment, den nur die sich wiegende Person und die Waage miteinander teilen, wobei die Emotionen allerdings allein beim erschrockenen Menschen verbleiben.
Doch das sollte nicht täuschen – diese Waage ist ein konservatives Manifest. Gnadenlos zerschellen an ihrem Fels des präzisen Messens und dessen unbestechlicher Wiedergabe alle Illusion, alle Hoffnung und alle Utopie. Jegliche philosophische Interpretation, jedes noch so metaphysisches Herleiten oder gar der Versuch einer hermeneutischen Deutung ist unmöglich – reines Sein ohne Ausweg. Lediglich der Abbruch des Wägevorgangs und das Verdrängen (ha, das Unterbewusstsein!) ist dem Opfer noch möglich.
Doch ganz am Ende gibt es doch noch ein Fitzelchen Zweifel, gar Hoffnung. Schaut man sich die verschiedenen Waagen an, stehen die Zeiger manchmal nicht ganz auf null, sondern schlagen ggf. schon ein halbes Kilo drauf. Was ist, wenn sie am Ende genauso wenig die wahre Realität wiedergeben, wie dies in dieser Stadt so weit verbreitet ist?
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